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Aufruf_und_Ansiedlung

Auswanderung und Ansiedlung


Nachdem Napoleon besiegt und endgültig aus der Europapolitik ausgeschieden war, ging Alexander 1. an den Abschluß der Kolonisierung des Schwarzmeergebietes. Er erließ am 29. November 1813 einen Aufruf an die Deutschen im Herzogtum Warschau, das 1807 /nach dem Tilsiter Frieden gegründet wurde, zu einer "freiwilligen Äuswanderung nach Rußland". In neun Punkten sind die Rechte und Pflichten der Auswanderer zusammengefaßt. Sie lauten (aus I. Wagner):

  1. Die russische Regierung nimmt die Kolonisten aus dem Herzogtum Warschau unter ihren besonderen Schutz und gewährt ihnen alle Rechte und Bequemlichkeiten, welche die Eingeborenen genießen.
  2. Von den Kolonisten wird verlangt, daß sie sich vorzugsweise mit der Verbesserung des Garten-, Wein- und Seidenbaues beschäftigen.
  3. Sie sind zehn Jahre lang von allen Abgaben und Grundsteuern frei.
  4. Es werden jeder armen Familie von der Krone auf zehn Jahre 270 Rubel Banco ausbezahlt; den anderen so viel, wie zu ihrer ersten Einrichtung erforderlich sein wird.
  5. Jeder Familie werden zu ihrem persönlichen und erblichen Eigentum 60 Deßjatinen Land zugeteilt (60 Deßjatinen "eine Wirtschaft" = 66 Hektar).
  6. Außerdem erhalten alle diejenigen, welche keine Lebensmittel haben, vom Tage ihrer Ankunft in Rußland für jede Seele pro Tag 5 Kopeken Nahrungsgeld bis zur ersten Ernte.
  7. Die Einwanderer sowohl wie auch ihre Nachkommen sind ein für allemal von der Rekrutenaushebung frei, ebenso von militärischen Einquartierungen, den Fall ausgenommen, wenn Durchmärsche stattfinden.
  8. Es steht den Kolonisten frei, ihrer Religion gemäß Kirchen zu bauen, Geistliche zu halten und ihre Religionsbräuche nach ihrer Weise auszuüben.
  9. Nach Ablauf der zehn Jahre werden andere zehn Jahre bestimmt, in welchen die den Kolonisten gewährten Unterstützungen der Krone zurückzuzahlen sind.

Das Manifest wirkte sich aber auch in Südwestdeutschland, hauptsächlich in Württemberg, aus. Darum unterscheiden wir zwei große Auswanderergruppen, die auf drei Wanderstraßen nach Bessarabien kamen. Die erste, die der «Warschauer Kolonisten«, führte von Warschau über Radziwill nach Tiraspol und in das Siedlungsgebiet. Der zweite Landweg ging von Württemberg über Lemberg, Radziwill und Tiraspol nach Bessarabien. Der dritte, der Wasserweg, führte auf kleinen Booten, den "Ulmer Schachteln" von Ulm donauabwärts bis Ismail, wo ein Durchgangslager eingerichtet war. Wir sehen, daß verschiedene Wege in das "verheißene Land« führten; außer den skizzierten Wanderstraßen gab es noch Abzweigungen und Sonderwege. Die Reise auf den unbeschreiblich schlechten Straßen von Polen mit Pferdewagen, Handkarren und zu Fuß glich dem Rückzug eines geschlagenen, verhungernden Heeres. Nachdem die auf den Grundstücken lastenden Schulden bezahlt sein mußten, blieb nur noch wenigen Auswanderern Geld in den Taschen. Es reichte oft nur, um den Hunger zu stillen. Der Landweg von Württemberg aber bis Bessarabien dauerte bis zu einem Jahr. Ohne eine ansehnliche Barschaft hätte er überhaupt nicht gemacht werden können. Die Treckfahrt 1945 vom Warthegau oder Westpreußen kann nur teilweise - abgesehen von den Schrecken des Krieges - eine Vorstellung von jenen Strapazen geben. Der direkte Wasserweg auf der Donau aber wurde schon in Wien und Budapest zu einer Katastrophe und endete mit Seuchen und Epidemien im Auffanglager in Ismail, denen ein großer Prozentsatz der Verzweifelten erlag. Mit dieser Reise kann die Fahrt donauaufwärts 1940 schon gar nicht verglichen werden. - Was hat die Auswanderer veranlaßt, diese Strapazen, von denen gewiß einiges in der Urheimat bekanntgeworden ist, auf sich zu nehmen und sich den Auswandererzügen anzuschließen? Man muß sich hüten, die Gründe auf einen Nenner bringen. zu wollen. Sie waren verschiedener Natur. Aus Polen, wohin schon seit der ersten Teilung dieses Staates aus verschiedenen Ländern Deutschlands, so unter anderem aus Württemberg und Preußen, Siedler eingewandert waren, trieb sie die Willkürherrschaft der polnischen Gutsherren wieder fort, ebenso die Katholisierungsbestrebungen der polnischen katholischen Kirche. Direktor A. Mauch, der nach der Umsiedlung Studien in der Umgebung von Posen machte, berichtet von gewaltsamen polnischen Namensgebungen in deutschen Familien, die heute noch erkennbar sind. Auch sahen die Deutschen in Kaiser Alexander 1. ihre Rettung aus dem ganzen Elend. Bessarabien erschien ihnen in dieser Lage als das verheißene Land. Nichts vermochte sie noch zurückzuhalten! Den Rest aber gab ihnen die Entblößung von ihrer letzten Habe beim Vormarsch und auf dem Rückzug der Armee Napoleons. Im Südwesten Deutschlands waren die Gründe anderer Natur. Die wirtschaftliche Notlage nach Mißjahren, die Zwangsmaßnahmen militärischer und wirtschaftlicher Art in den Kriegen Napoleons und die Lage der Bauern, die der Leibeigenschaft nahe kam, haben eine wichtige Rolle gespielt. Der Funke aber, der die Hochspannung zur Explosion brachte, war der Chiliasmus. Die Enderwartung hat immer wie die Glut unter der Asche geschwelt. An den großen Wendepunkten loderte sie wieder auf; und zu diesen gehörte auch die napoleonische Zeit. In den Kreisen der Gläubigen war man besonders hellhörig auf die Prophezeiung des frommen und hochgelehrten Prälaten Bengel in Denkendorf, der im Jahre 1836 das Weltende und den Anbruch des Tausendjährigen Reiches erwartete. Hinter dem Lande "Samarkand" sollte nach Jung-Stillings Auslegung der Bergungsort für die Gläubigen liegen; hier im Reiche des "Fürsten von Solyma" sollten die Seliggepriesenen den Anbruch des Friedensreiches erwarten. Auswanderung nach Osten, das war auch Lindls Losungswort, seit er in den Bannkreis Stillings geraten war. Die übrigen Beweggründe erleichterten den Entschluß, nach dem Osten auszuwandern. Man blickte auf den Gegenpol Napoleons, auf Alexander 1., den Retter im Lichte des Glaubens. Durch seine engen Beziehungen zu der pietistisch gesinnten Frau von Krüdener und dem Pietismus überhaupt war er für die Christen der helleuchtende Stern, der über dem gequälten Europa aufging. Wer diese Tatsachen nicht sieht, bringt sich um das volle Verständnis der letzten großen Auswanderungsbewegung nach dem Osten. Die religiöse Idee konnte die Stoßkraft geben, die trotz aller Gefahren, trotz Pest und Cholera und trotz des Mordes von Frauen und des Kinderraubes durch die wilden Bergvölker zu einem Vorstoß bis nach Transkaukasien ausreichte. Die Ansiedlung der Bessarabiendeutschen in den Jahren von 1814 bis 1842 konnte auf viele Erfahrungen zurückschauen, die seit dem Anfang der deutschen Kolonisation unter Katharina gemacht worden waren. Das zeigte sich in der sorgfältigen Auswahl der Siedler und in der Vorbereitung der Ansiedlung. Man legte Gewicht auf erfahrene Landwirte, auf gute Handwerker und in beiden Fällen auf ein Barvermögen. Das war "staatliches Erfordernis". Süd-Bessarabien wurde als eigentliches Siedlungsgebiet ausgewählt und in drei Siedlungsgebiete aufgeteilt. Die dafür bestimmten Landstriche wurden in Grundstücke, mit Nummern versehen, aufgeteilt. Das Siedlungsgebiet für die Deutschen war im allgemeinen das mittlere Stromgebiet der Steppenflüsse Kogälnik, Tschaga, Tschiligider und Sarata. Es hatte 16 Landstücke mit einem Flächeninhalt von 131479 Deßjatinen und 1343 Quadratfaden (eine Deßjatine = 1,0925 Hektar), rund 147705 Hektar. Bis 1914 kauften die Deutschen noch 182295 Hektar hinzu und bearbeiteten aufgrund langjähriger Pachtverträge weitere 24 117 Hektar.

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